Die Euphorie ist vorbei. Eine Reflexion über den Protest und die Entwicklung von Zukunftsszenarien für ein demokratisches Belarus haben begonnen.
Ein Interview mit dem Künstler und Kurator Sergey Shabohin zum Jahrestag der Proteste in Belarus.
Vor einem Jahr begannen die Massenproteste gegen den Wahlbetrug in Belarus. Künstler, Musiker und Schriftsteller begannen sich aktiv an friedlichen Aktionen zu beteiligen. Einige Kulturschaffende führten die demokratische Bewegung im Koordinationsrat der Opposition an. Du hast als Künstler und Kurator selbst an einigen Ausstellungen von Protestkunst teilgenommen. Was hat sich an Deiner Arbeit im Lauf des Jahres verändert, und wo befinden sich heute kritische belarussische Kunstschaffende?
Ich habe den Eindruck, dass inzwischen eine erhebliche Zahl von Künstler*innen Belarus gezwungenermaßen verlassen hat, vor allem nach Deutschland, Polen, Litauen, Georgien, in die Ukraine, nach Russland und Frankreich. Aber viele, wie auch ich, leben auch schon seit langem außerhalb des Landes, und andere bleiben (auch aus Prinzip) in Belarus, trotz des Risikos, inhaftiert zu werden. Der Protest ändert ständig seine Formen, und nach dem pathetischen Höhepunkt mit den Märschen von vielen Tausenden, der das Gesicht der Zivilgesellschaft zeigte, folgt nun eine lange und wichtige Phase methodischer Arbeit. Nun geht es bei den Protesten darum, Verbindungen und Netzwerke der Solidarität zu stärken, Denkweisen zu ändern, neue Strategien und Taktiken zu entwickeln, Dokumente und Beweise zu sammeln, und konsequente oder auch spontane Schritte in Richtung eines Sieges für jede(n) einzelne(n) von uns zu unternehmen. Diejenigen, die das Land verlassen haben, werden aktiv in die wachsende Diaspora integriert, die es in jeder größeren Stadt gibt. Sie beteiligen sich an der Organisation von Ausstellungen, Demonstrationen und Protestaktionen gegen das Regime und reflektieren kritisch das, was geschieht. Selbst diejenigen, die früher kritische Themen mieden, beteiligen sich an der Protestbewegung. Alle, die ich persönlich kenne, sind kritisch eingestellt und die meisten von ihnen glauben an den Sieg, den wir, wie viele zugeben werden, symbolisch bereits im letzten Jahr errungen haben. Nun geht es darum, tatsächlich zu gewinnen. Auch wenn ich in letzter Zeit immer wieder Zweifel daran gehört habe, kann meines Erachtens die Rolle der Kunstschaffenden bei diesem Protest kaum überschätzt werden, handelt es sich doch eindeutig um einen kulturellen Protest. Und es gibt noch viel zu tun, die Distanz zu den Ereignissen wird bald wachsen, was uns viel Anlass zur Reflexion bietet. Der Wiederaufbau des Landes für die Gemeinschaft nach dem Sieg wird bereits jetzt diskutiert, und es werden viele inspirierende Projekte für die Zukunft entwickelt.
Wie hast Du persönlich das letzte Jahr verbracht?
Vielleicht haben uns 2020 und 2021 alle in einen neuen Zustand versetzt: Die Welt verändert sich durch die Pandemie und neuen Produktionsbedingungen, und die Proteste in Belarus haben tiefgreifendste Auswirkungen auf alle Belaruss*innen gehabt. Ich habe in diesem Jahr eine emotionale Berg- und Talfahrt hinter mir, vermisse geliebte Menschen, und arbeite gleichzeitig an Werken und Ausstellungen zu den Protesten. Derzeit erstelle ich einen Katalog zum Projekt „Social Marble: The Rise of Civil Society in Belarus“, in dessen Rahmen ich während eines 20-tägigen Aufenthalts in Berlin 14 Personen aus Belarus, die ich für wichtig halte, zu den Ursachen, Symbolen, Merkmalen und Plänen des Protests befragt habe. Das Ergebnis ist ein Meinungsarchiv, eine Zeitachse und ein Protestglossar, das ich als ein zeitgeschichtliches Dokument für sehr wichtig halte, weil alle Interviews zwischen den emotionalen Höhenflügen und der ersten großen Phase des Zweifels aufgezeichnet wurden und das Archiv daher Ideen für die Zukunft und viele idealistische Appelle enthält, die es aufzubewahren und nachzulesen gilt. Als Kurator konzipiere ich auch Ausstellungen zu den Protesten: zunächst eine Gruppenausstellung in einer Berliner Bar mit dem Titel „B.A.R. (Belarus. Kunst. Revolution)“ und anschließend als Teil einer Kuratorengruppe die größte belarussische Ausstellung, die jemals im Mystetskyi Arsenal in Kiew zu sehen war, und die ganz der Revolution in Belarus gewidmet ist. Und nun arbeiten wir auch dazu an einem Ausstellungskatalog, einem weiteren Dokument für die Zukunft.
Woran arbeitet ihr im Projekt KALEKTAR?
Die Überarbeitung des Portals KALEKTAR hat schon vor den Protesten begonnen, und dank der Unterstützung der Stiftung sind wir nun intensiv dabei, die Plattform neu zu gestalten. Maksim Tyminko, ein bekannter Medienkünstler und Kurator in Belarus, arbeitet derzeit an der Programmierung einer neuen Version des Portals, die ein benutzerfreundliches Instrument und eine Datenbank für jedermann sein wird. Das Portal wird aus zwei miteinander verbundenen Formaten bestehen: einer Enzyklopädie der zeitgenössischen belarussischen Kunst und einer Publikationsseite, die die Zeitschrift „ART AKTIVIST“, Veröffentlichungen über wichtige Werke („ZBOR“) sowie Vorträge („FAK“) und Archivmaterial umfasst. Die beiden Elemente ー Enzyklopädie und Publikationen ー werden vollständig miteinander synchronisiert. Obwohl das noch eine Menge Arbeit ist, planen wir, das Portal noch in diesem Jahr zu veröffentlichen. Darüberhinaus arbeiten wir im Rahmen der
Überarbeitung unserer Plattform auch an einer internationalen Gruppenausstellung in Poznan im Kunstraum Domie, die im Oktober 2021 eröffnet wird. Zum Kuratorenteam für diese Ausstellung gehören Aleksei Borisionok, Vera Zalutskaya und Raman Tratsiuk. Die Dokumentation der Ausstellung wird auch auf KALEKTAR erscheinen.
Sergey Shabohin im Interview mit Friederike Brinks (Rönne-Stiftung), 9.8.2021.